Ich bin ratlos. Ich bin einmal die Woche als Übungsleiter bei einer kleinen Lauftruppe, der sich vor etwa zwei Jahren auch eine jugendliche Person angeschlossen hat, die biologisch weiblich ist und sich aber offenbar schon seit Ewigkeiten männlich fühlt. Es war von Beginn an recht offensichtlich, dass die Person, die sich nach einiger bei uns Zeit outete und seitdem mit einem männlichen Vornamen angesprochen wird, einfach Anschluss suchte, und ich habe mich ein bisschen als Zuhörer einspannen lassen. Das ging dann schnell in die abgründigen Themen von Diskriminierung, Missbrauch sowie familiären und schulischen Schwierigkeiten bis hin zu selbstverletzendem Verhalten und Suizidgedanken. Schließlich bekam ich auch noch ein Liebesgeständnis von ihm mir gegenüber oben drauf, das ziemlich sicher mehr mit der puren Dankbarkeit fürs Zuhören als irgendetwas sonst zu tun hatte. Ich hatte recht schnell darauf hingewiesen, dass ich gerne mal nach dem Training ein offenes Ohr habe und im Rahmen meiner Möglichkeiten einen klugen Ratschlag erteile, dass ich aber auf diesen ganzen Gebieten nicht professionell agieren kann und er sich bitte an adäquate Einrichtungen wenden soll. Habe ihm dabei auch Namen, Adressen und Nummern gegeben, die ich so auf dem Schirm hatte. Dem Liebesgeständnis habe ich schnell einen Riegel vorgeschoben und ihm klargemacht, dass er mich bitte in einer lehrerähnlichen Funktion sehen soll, wurde auch so akzeptiert. Er neigt dazu, Leute mit Nachrichten und Anrufen zu bombardieren, weshalb ich meine Handynummer nie rausgegeben habe, er hat aber meine Mail-Adresse. Da erhielt ich irgendwann eine Mail, die extrem nach Abschiedsbrief klang und in der auch Suizid thematisiert wurde. Habe zurückgeschrieben, er möge mir umgehend versichern, dass er das nicht macht, weil ich ansonsten den Notruf wählen werde. Antwort war dann: Bitte nicht, alles nicht so gemeint. Habe noch einmal auf die Hilfsangebote hingewiesen. In den ganzen Monaten sind so ein paar Steine ins Rollen gekommen, er hatte mit Beratungsstellen zu tun, hat eine Therapie begonnen (die leider nicht so wirklich auf seine Bedürfnisse abgestimmt zu sein scheint), hat sich sportlich verbessert. Aber in den letzten Wochen kommen wieder vermehrt Signale, wie schlecht es ihm ginge sowie Zunahme von selbstverletzendem Verhalten und Suizidgedanken. Und ich merke zunehmend, wie mich das überfordert. Formal betrachtet bin ich einfach nur sein Übungsleiter, und ich habe kein Interesse daran, außerhalb dieses zeitlichen Rahmens eine Beziehung mit ihm zu führen (gab schon so Anfragen wie Begleitung zur Therapiestunde oder sonst was). Ich kann aber auch nicht einfach wegschauen und die Gefahr eingehen, dass sonst was passiert, wenn er mich mit diesen Aspekten adressiert. Was ich von seinen Eltern mitbekommen habe, ist das auf deren Seite eine Mischung aus Überforderung und Ignoranz, und er bemüht sich um eine möglichst große Abgrenzung von diesen. Habe eben gelesen, dass er mir am Wochenende eine Mail geschrieben hat, in der er wieder betont, wie sehr sich sein emotionaler Zustand in letzter Zeit verschlechtert habe. Das kann so ja nicht weitergehen. Ich kann nicht die Verantwortung für diesen Menschen tragen, weiß aber auch nicht, wie ich weiter vorgehen soll. Irgendjemand von euch Erfahrungen mit so etwas?
Lieber Ser Oberyn, das ist wirklich eine sehr schwierige, überfordernde Situation. Ich habe Erfahrungen, die in eine ähnliche Richtung gehen, jedoch bei weitem nicht ganz so ernst sind wie in deinem Fall. Entsprechend weiß ich nicht ob ich dir da allzu sehr weiterhelfen kann, aber zumindest ein wenig Verständnis ist vielleicht besser als gar keine Antwort.
Ich bin generell zu jedem freundlich, insbesondere wenn offensichtlich ist, dass die Person Probleme hat. Das führt dann häufig dazu, dass ich mich in Situationen wiederfinde, in denen ich mich sehr unwohl fühle, denn dass ich freundlich bin, heißt nicht, dass ich mit jemandem befreundet sein oder eine Beziehung eingehen möchte bzw. viel Zeit mit der Person verbringen möchte. Meist sind es Menschen die ich nicht regelmäßig sehe, sodass es nicht allzu problematisch ist, da ich mit sowas für einen begrenzten Zeitraum ganz gut umgehen kann. Ich habe aber seit einigen Monaten einen jüngeren Kollegen, der recht speziell ist und bei dem der Umgang mit ihm sehr belastend für mich ist. Er hat kein Gespür für körperliche Abstände bei Gesprächen, dafür wann er zu viel redet und welche Themen in welcher zwischenmenschlichen Beziehung oder Situation angebracht sind. Er zeigt auch selbstverletzendes Verhalten (er ritzt sich). Als er gerade neu bei uns angefangen hat war ich standardmäßig sehr freundlich, während andere Kollegen bedeutend kühler waren (nicht unfreundlich aber eben distanzierter). Das hat dazu geführt, dass er sich sehr stark auf mich als Bezugsperson fokussiert hat. Er hat in Pausen ständig das Gespräch mit mir gesucht, teils auch sehr aufdringlich (z.B. Gespräche mit anderen Kollegen unterbrechend). Gleichzeitig ist er sehr nett und es ist offensichtlich, dass er es im Leben nicht leicht hat. Entsprechend konnte ich es nicht über mich bringen distanzierter zu sein, eben auch aus Sorge, vielleicht seine psychischen Probleme zu verschlimmern. Das ging so weit, dass ich überlegt habe, zumindest einige Tage die Woche nicht mehr in der Mittagspause mit meinen Kollegen essen zu gehen, da ich einfach meine Ruhe haben, ihn aber auch nicht gezielt ausschließen wollte. Ich bin leider sehr schlecht darin solche Probleme direkt anzusprechen. Hier bist du mir weit voraus, da du offenbar sehr offen kommuniziert hast, in welcher Rolle du dich siehst.
Mein Kollege ist in Therapie und macht den Anschein dort recht gut aufgehoben zu sein. Auch sein familiäres Umfeld scheint sehr unterstützend zu sein, sodass ich mich gefragt habe, ob ich meinen Einfluss vielleicht überschätze.
Ein wenig hat es mir geholfen mit zwei anderen Kollegen darüber zu sprechen. Normalerweise finde ich es nicht so schön so etwas hinter dem Rücken von jemandem zu besprechen, aber ich habe diese Belastung irgendwann nicht mehr ausgehalten. Zusätzlich hatte ich das Gefühl, dass meine Kollegen dachten, dass ich mich ja scheinbar sehr gut mit ihm verstehe und sie schienen froh zu sein, dadurch selbst nicht allzu viel mit ihm interagieren zu müssen. Sie haben dann versucht mich da ein wenig zu entlasten. Wie sieht es da bei dir aus? Gibt es Leute in deiner Lauftruppe, mit denen du darüber reden kannst und die vielleicht etwas Support bieten können?
Ich habe letztendlich für mich entschieden, dass ich doch auch etwas an mich denken muss und versucht stärker Grenzen zu setzen, es zum Beispiel klar zu sagen, wenn ich ein Thema gerade nicht angebracht finde, oder dass ich mich gerade mit jemand anderem unterhalte und dieses Gespräch fortsetzen möchte. Er hat sich einige Zeit später recht stark aus den gemeinsamen Mittagessen der Arbeitsgruppe zurückgezogen, mit der Begründung, Geld sparen zu wollen. Ich bin nun sehr unsicher ob das der tatsächliche Grund ist, oder ob er sich sehr stark abgewiesen gefühlt hat. Ich habe wie schon gesagt auch sehr starke Bedenken, ob ich meine eigene Rolle vielleicht überinterpretiere und möchte das daher auch nicht ansprechen. Das ist wie gesagt alles bedeutend weniger ernst als in deinem Fall, da eine starke emotionale Bindung an mich nie von ihm thematisiert wurde und er der Thematik Selbstverletzung auch eher ausgewichen ist. Aber ich kann vielleicht ansatzweise nachvollziehen wie es ist, sich für das psychische Wohlergehen einer Person verantwortlich zu fühlen und wie belastend das ist. Ich habe ein unheimlich schlechtes Gewissen, mich meinem Kollegen gegenüber nun recht distanziert zu zeigen nachdem er wohl zunächst das Gefühl hatte mir alles erzählen zu können. Ich mag mir gar nicht vorstellen wie belastend deine Situation ist.
Das eigene Wohlergehen ist aber eben auch sehr wichtig, auch wenn man sich dann vielleicht sehr egoistisch fühlt. Mein sehr vermeidendes Vorgehen ist sicherlich auch nicht der beste Weg und ich kann leider keine guten Ratschläge geben, wie du dich verhalten solltest. Ich denke du hast eigentlich schon alles getan was man in so einer Situation tun kann (versuchen Hilfe zu organisieren, zuhören, aber klare Grenzen ziehen, etc.). Vielleicht wäre es auch nicht verkehrt wenn du dich mal an eine Telefonseelsorge oder ähnliches wendest, denn deine Situation ist ja auch sehr belastend und vielleicht kann dir da jemand fachlich fundierte Tipps geben? Wenn es dir hilft einfach mal weiter drüber zu reden, kannst du mir auch gerne eine persönliche Nachricht schreiben.