Zunächst einmal: Eine Lücke bei sexueller Gewalt besteht nicht (das hat jetzt aber nichts mit den Grapscher-Fällen zu tun), jedoch kann man die "Grapscher"-Fälle als Strafbarkeitslücke ansehen. Warum es aber falsch wäre, einen solchen Straftatbestand wirklich in Erwägung zu ziehen, will ich nun darstellen.
Es ist rechtlich selbstverständlich geregelt, dass LKW-Fahrer Hugo das Brötchen seines Busnachbarn trotz Bagatellwert nicht aus dessen Einzugsbereich entwenden und essen darf.
Hierzu muss aber erwähnt werden, dass hier § 248a StGB (Diebstahl geringwertiger Gegenstände) greift und es sich somit um ein Antragsdelikt handelt.
LKW-Fahrer Hugo kann seinem Busnachbarn gleich ob männlich oder weiblich zur eigenen sexuellen Stimulation aber völlig unbedarft die Hand in den Schritt drücken oder ihm/ihr beim Aussteigen auf den Hintern schlagen.
Eine Einverständnis der Vornahme einer sexuellen Handlung durch einen Fremden kann ich beiden Fällen selbstverständlich ebenso wenig vorausgesetzt werden wie im Fall des Diebstahls die einer Schenkung.
Jetzt müssen wir aber in die Trennung beider Tathandlungen einsteigen. Ob der Bestohlene beim Diebstahl den Vermögensverlust letztlich bemerkt oder nicht ist irrelevant. Die Wegnahmehandlung ist ein objektiv feststellbarer Akt, der auf die Enteignungskomponente abstellt. Der grundsätzlich straflosen Gebrauchsanmaßung hingegen fehlt dieses Element.
Nun haben wir es aber bei den von Dir beschriebenen Grapscher-Fällen mit zwei Menschen zu tun. In der Berührung eines fremden Menschen wird man kaum eine der Enteignung gleichstehende Handlung sehen können, denn der oder die Betroffene büßt hier nichts ein. Der Vergleich der Tatbestände in ihrer konkreten Ausgestaltung (und nicht nur in ihrem dogmatischen Aufbau, worauf Fischer auch im Wesentlichen hinaus will) hinkt daher: Bei einer Berührung wird niemand enteignet oder einer sonstigen Rechtsposition beraubt. Man ist lediglich einer unbefugten Benutzung (ich weiß, dass dieses Wort nicht passt) ausgesetzt. So ergeht es dem Betroffenen einer Gebrauchsanmaßung: Er ist in seinem Vermögen nicht geschmälert, aber einer Nutzung ausgesetzt.
Menschliche Interaktion lässt sich darüber hinaus nicht in ein Ja/Nein-Schema wie beim Eigentum pressen, was Fischer auch zutreffend feststellt. Eine objektivierbare Perspektive wie das ausdrückliche Einverständnis einer Vermögensverschiebung wird man bei der nonverbalen Kommunikation zwischen zwei Menschen nicht formulieren können. Forderst Du nun aber vor jeder Berührung ein Einverständnis, so erstickst Du geradezu den Umgang von Menschen untereinander in Gänze. Denn welche Berührungen sollen denn dann umfasst sein? Solche, die den Täter erregen? Oder solche, die nur das Opfer als sexuell empfindet? Wo ist der objektive Maßstab, der Recht von Unrecht trennt?
Der objektive Tatbestand wäre bei Grapscher-Fällen außerdem in jeder "überraschenden" Handlung erfüllt, denn einen Willen kann das Opfer ja dort nicht haben, sonst wären wir wieder im Bereich der Willensbeugung, die ja in den Grapscher-Fällen überhaupt nicht stattfindet. Selbst das sich innig liebende Paar, bei dem der eine Partner beim Knutschen plötzlich die Hand in die Hose des Anderen steckt, handelt überraschend und ohne vorherige Zustimmung. Der objektive Tatbestand ist somit schon erfüllt.
Der Täter muss außerdem subjektiv mit irgendeinem Unrechtsbewusstsein handeln. Der Mensch, der eine fremde bewegliche Sache wegnimmt, weil er irrtümlich der Annahme ist, er dürfe sie nehmen, begeht ja auch keinen Diebstahl. Und hier kommen wir wieder auf die Unwägbarkeiten menschlicher Kommunikation zurück: Wer hat denn nicht schon mal Situationen erlebt, in denen er geküsst oder berührt wurde, ohne dass er dies wollte? Gerade die Phase des Kennenlernens zwischen zwei Menschen zeichnet sich dadurch aus, dass gegenseitig Grenzen ausgelotet werden, und in nicht wenigen Fällen werden bestimmte Gefühle oder Handlungen vom Gegenpart nicht erwidert. Das ist Teil des Spiels, der sich einer strafrechtlichen Einteilung in Richtig und Falsch gänzlich entzieht.
Wer hier letztlich auf irgendein Überraschungsmoment abstellt, stellt gleich eine ganze Reihe vollkommen harmloser Verhaltensweisen unter Strafe, denn sowas lässt sich nun mal nicht auf plumpe "Der 68-jährige Walter fasst der 18-jährigen Lisa in den Schritt"-Fälle beschränken. Man wird hier keinen einheitlichen Maßstab finden können, vielmehr würde dies in den Unwägbarkeiten des Einzelfalls verschwinden. Das widerspricht aber dann wieder dem Bestimmtheitsgrundsatz. Konsequenz daraus wird sein, dass die Gerichte äußerst zurückhaltend urteilen werden - womit wir dann wieder bei einer neuen Schutzlücken-Diskussion wären und sich alles weiter im Kreise dreht, bis wir irgendwann bei Fahrlässigkeitsdelikten und der Beweislastumkehr ankommen.
Solche Delikte werden bis jetzt entweder gar nicht verfolgt (es sei angemerkt, dass Diebstahl hingegen keinen Mindestwert kennt) oder als "Beleidigung mit sexuellem Hintergrund" - ein Konstrukt der Rechtsprechung um überhaupt eine Strafbarkeit zu gewährleisten obwohl die Taten völlig offensichtlich nichts mit Beleidigung zu tun haben, oder eine absichtliche Überinterpretation des Überraschungsmoments als Notlage um mit Ächzen und Krächzen zum Nötigungsparagraphen zu kommen.
Selbstverständlich besteht hier also eine rechtliche Regelungslücke.
Bezüglich des Diebstahls habe ich ja bereits gesagt, dass hier allenfalls Gebrauchsanmaßung passen würde und der Diebstahl geringwertiger Gegenstände nur auf Antrag verfolgt wird.
Ich stelle auch nicht infrage, dass die Grapscher-Fälle nicht geregelt sind. Aber zum einen sprechen die von mir o. g. Gründe gegen eine Schaffung eines solchen Tatbestandes, zum anderen ist hier auch die besondere Funktion des Strafrechts zu beachten: Es soll ultima ratio sein, deshalb sind Schutzlücken im Strafrecht geradezu unumgänglich. Das Strafrecht soll nur die allerschwersten Verstöße ahnden und auch hinreichend bestimmt sein. Bei den Grapscher-Fällen bewegen wir uns aber in graue Fahrwasser, die kaum mehr eindeutig zu bestimmen sein werden, anders als eben ein Diebstahl.
Es ist bekannt wer Stellung genommen hat. Selbst ohne die (hellgrünen) Opferanwälte fällt das Ergebnis mehr denn klar aus.
https://www.bundestag.de/dokum…2015/kw05_pa_recht/356430
Birgit Cirullies, Staatsanwaltschaft Dortmund, Leitende Oberstaatsanwältin
Christina Clemm, Rechtsanwältin, Berlin
Prof. Dr. Jörg Eisele, Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Juristische Fakultät, Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Computerstrafrecht
Gregor Eisenhuth, Staatsanwaltschaft München I, Abteilung XVI - Straftaten Jugendlicher und Heranwachsender, Jugendschutz- und Sexualstrafsachen, Oberstaatsanwalt
Prof. Dr. Thomas Fischer, Bundesgerichtshof, Karlsruhe, Vorsitzender Richter
Katja Grieger, Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe, Frauen gegen Gewalt e.V., Leiterin
Prof. Dr. Joachim Renzikowski, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsphilosophie/Rechtstheorie
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Die Stellungnahmen der Praktiker sind doch recht eindeutig: Auch wenn Oberstaatsanwalt Eisenhuth eine Schutzlücke sieht, lehnt er eine Einführung eines solchen Tatbestandes ab. Der eine Professor befürworten die Neuregelung auch nicht, sondern will was ganz anderes. Und selbst Prof. Renzikowski, der dort als Befürworter angeführt wird, sagte selbst:
"Ein Handeln gegen den Willen, ein Sich-hinwegsetzen über die Selbstbestimmung des anderen setzt genau genommen immer eine nötigungsähnliche Situation voraus, also eine Zwangslage des Opfers, in der es zwischen zwei Übeln wählen kann: Entweder, es nimmt diesen an sich unerwünschten Sexualkontakt in Kauf oder es folgt eine andere Konsequenz, die es noch weniger will. Und das ist die Frage, wie man das präzise in einer Norm formuliert. [...]
Das ist zunächst mal nicht schlecht, denn dann hätte ich ein nach außen objektiv deutliches Verhalten. Und dann kann ich sagen: Wenn das Opfer „Nein“ sagt, dann ist das zunächst mal ein „Nein“. Andererseits, wenn das Geschehen dann trotzdem auf eine nicht gewalttägige, sondern lediglich zudringliche Weise weitergeht, dann gibt es wieder diese Widersprüchlichkeit, die mir bei der Begründung einer Strafbarkeit Bauchschmerzen bereitet. Um bei einem mitwirkenden Opfer von einem fehlenden Einverständnis zu sprechen muss es dann irgendwelche weiteren Merkmale geben, die seine Freiwilligkeit aufheben."
http://blog.beck-shop.de/blog/…view-prof-dr-renzikowski/
Er sieht ja selbst, dass das problematisch ist und dass man letztlich immer wieder bei irgendwas landen muss, was einer Nötigungshandlung gleichkommt - und bereits jetzt strafbar ist. Denn man wird kaum einen Straftatbestand schaffen können, der all das umfasst, ohne damit 30 Seiten zu füllen. Das erkennt der Prof. ja auch, dass all das zu schwammig bleibt.