Ich tue mich schon seit längerer super schwer damit.
Ich fürchte, das gilt auch für mich. Die ganz kurze Einordnung siehe ganz unten.
Ich bin in einer Familie voller glühender Saakaschwilianhänger aufgewachsen. Ich war 2, als er an die Macht gekommen ist und als ich alt genug war, um mich selbständig mit dieser Person zu beschäftigen, war er abgewählt und ich lebte in Deutschland, wo ich bald kaum mehr auf Georgisch las. Meine Perspektive auf Saakaschwili baut also auf einer Mischung von emotionsgeladenen georgischen Diskussionen und deutschen Quellen auf und ich kann das Leben in seiner Regierungszeit kaum mit dem Leben davor oder danach vergleichen.
Dabei ist das wohl ausschlaggebend, um die Unterstützung für Saakaschwili zu verstehen, die auch nach einem Jahrzehnt seit seiner Präsidentschaft besteht. Sein international anerkannter Erfolg liegt in der Bekämpfung von Korruption und Kriminalität und dem Wirtschaftswachstum. Das wissen seine Unterstützer, die die 90-ger in Georgien miterlebt haben, zu schätzen. Die Horrorgeschichten über Bestechungsgelder bei jedem Behördengang, ständige Stromausfälle, Überfälle und Einbrüche sind für mich und meine Altersgenossen eben nur Geschichten. Diese merkliche Verbesserung der Lebensqualität ist ein wichtiger Grund für sein Erfolg und etwas, wofür ich persönlich dankbar bin.
Die Beliebtheit von Saakaschwili hat aber auch einen anderen Grund: Er hat es geschafft sich authentisch als Feind Russlands zu inszenieren. Mit seinem entschieden pro-westlichen Kurs hat er für Aufbruchstimmung gesorgt. Als Georgien zweitgrößter Truppensteller der NATO-Mission in Afghanistan war, Bush auf Georgiens Beitritt in die NATO drängte, das Land im Korruptionsindex einen Sprint hinlegte und in der EU die schnelle Entwicklung Georgiens gelobt wurde, wirkte es so, als gäbe es eine Chance auf Sicherheit vor Russland. Das hat sicher dazu beigetragen, dass die absolute Mehrheit der Bevölkerung den Beitritt in die NATO und EU befürwortet, obwohl schon seit 2013 eine russlandfreundliche Partei regiert. Die Tatsache, dass Saakaschwili in der Post-Maidan-Ukraine die Korruptionsbekämpfung fortgeführt hat und die Eier hatte, selbst Poroschenko der Korruption zu bezichtigen, hat seine politische Karriere wie einen persönlichen Feldzug gegen russische Interessen in der Postsowjetunion wirken lassen. Seit er trotz Haftbefehl nach Georgien zurückgekehrt ist und im Gefängnis einer russlandfreundlichen Regierung dahinsiecht, ist er für seine Anhänger schlussendlich ein Märtyrer geworden. Ich kann nicht beurteilen, wie viel er aus politischem Kalkül oder wegen einem kleinen Dachschaden macht, aber seine Laufbahn ist beeindruckend.
Und die Fehltritte in seiner Laufbahn sind für mich völlig verworren. Was stimmt von den schweren Anschuldigungen, wegen denen er in Haft sitzt? Die Haft ist sicherlich politische Rache und soll Putin schmeicheln, aber das heißt nicht, dass er die Verbrechen (Missbrauch von Staatsgeldern, angeordnetes verprügeln eines Abgeordneten) nicht begangen hat. Fakt ist, dass er mit Polizeigewalt gegen friedliche Demonstranten vorgegangen ist und ihm auch im Westen autoritäre Züge vorgeworfen werden. Es gibt einen Skandal bezüglich eines oppositionellen Senders, die er stürmen lassen hat, bei dem ich nicht durchblicke. Egal welche Kontroverse, in Georgien bekomme ich sympathiebasierte Antworten auf meine Fragen und die westlichen Quellen berichten oft nur oberflächlich. Interessant finde ich, dass mein Vater, ein Fanboy der ersten Stunde, kürzlich nichtmal versuchte, autoritäres Verhalten von Saakaschwili abzustreiten und es stattdessen als notwendiges Mittel für die Etablierung eines funktionierenden demokratischen Staates rechtfertigte.
Der größte Fleck auf Saakaschwilis Weste ist aber der Augustkrieg 2008. Laut dem EU-Bericht startete der Krieg mit einer georgischen Offensive in Südossetien. Für anderweitige Darstellungen der georgischen Seite gibt es keine Beweise. Das Vorspiel zu der Offensive ist ein Dschungel aus widersprüchlichen Berichten. Man kann noch so überzeugt sein, dass Russland auch ohne einen Präventivschlag Georgiens einmarschiert wäre, aber beweisen kann man das nicht. Auch die Ukraine, die in einer ähnlichen Situation trotz der Anbahnung einer russischen Invasion bis zu letzter Sekunde die Füße still gehalten hat, hilft da nicht weiter. Georgien steht als Mitverantwortlicher da und es besteht die Chance, dass der Krieg hätte verhindert werden können, wenn Saakaschwili sich nicht provozieren lassen hätte.
Welche Rolle eventuelle Äußerungen der Amerikaner, wie die von Oberyn erwähnte, bei seiner Entscheidung gespielt haben, bleibt unklar. Ich weiß nicht, ob er ernsthaft auf einen Kriegseintritt der NATO gehofft hat, aber er muss doch mehr westliche Unterstützung erhofft haben, um eine Offensive anzuordnen.
Den Augustkrieg und Saakaschwili zu verstehen, ist sowieso eine Lebensaufgabe und ich freue mich über jede Quelle und neue Perspektive.
Ganz kurze Einordnung: Ich denke, Micheil Saakaschwili ist ein fähiger Politiker, der für eine schnelle und positive Entwicklung Georgiens gesorgt und die weichen für die Integration des Landes in den Westen gelegt hat. Ich bin gewillt zu glauben, dass ihm der Kampf gegen den russischen Imperialismus wirklich am Herzen liegt. Er hat aber viele Kontroversen um Machtmissbrauch mit sich zu tragen, die ich leider nicht durchblicke. Außerdem denke ich, dass er mit dem Präventivschlag im Augustkrieg 2008 den letzten Rest Hoffnung auf einen friedlichen Ausgang der Situation über Bord geworfen hat.