Ein böser Rant, der sicherlich einige schmerzhafte Punkte benennt. Nawalny war natürlich kein Messias. Was seine politischen Überzeugungen anbelangt, ist zumindest für mich nicht ganz einfach, solche zu erkennen, so oft wie er Dinge gesagt und später wieder relativiert hat. Er hat offenbar versucht, sowohl das nationale als auch das liberale Lager gegen Putin in Stellung zu bringen. Und ich glaube auch nicht, dass er unbedingt ein geeigneter Präsident gewesen wäre. Das war für mich aber auch nicht seine Rolle.
Der Vorteil einer funktionierenden Demokratie ist in meinen Augen, dass allzu exzessive Vorgänge in die eine oder in die andere Richtung oftmals abgestraft und deshalb von Politikern eher vermieden werden. Demokratie hat insofern eine mäßigende Wirkung Im Vergleich zu autoritären Regierungen, die kaum noch Konsequenzen zu befürchten haben. Ich glaube Popper hat einmal das Mindestkriterium an eine Demokratie angelegt, demnach es zumindest noch möglich sein muss, eine Regierung wieder abzuwählen. Und genau das war der Punkt, an dem Nawalny angesetzt hat, indem er beispielsweise bei Regionalwahlen die aussichtsreichsten Gegenkandidaten zu Putins Leuten unterstützt hat. Diese Gegenkandidaten waren mit Sicherheit nicht immer die mit den tollsten Inhalten, teilweise waren sie womöglich auch Teil einer Scheinopposition. Auf Dauer aber hätten solche Wahlniederlagen Putins Macht geschadet, allein schon weil sie ganz grundsätzliche demokratische Elemente gestärkt hätten. Putin selber scheint das nicht anders gesehen zu haben. Von den ständigen Veröffentlichungen von Korruption und deren Folgen einmal ganz abgesehen. Wäre Nawalny an die Macht gekommen, hätte er sich natürlich auch als kriegstreibender Despot erweisen können, wer weiß das schon. Ihm das zu unterstellen, würde ich aber nicht für fair halten (ebenso wenig den Vergleich mit Gorbatschow). Ob der Mann ein Held war, muss jeder für sich selber entscheiden, seine Bemühungen gegen dieses Regime unter Einsatz seines Lebens sind für mich jedenfalls heldenhaft.
Ich verstehe aber deinen grundsätzlichen Punkt. Millionen von kritischen Russen sind die letzten Jahrzehnte ausgewandert, in dem Land gibt es keine funktionierende politische oder gesellschaftliche Opposition. Und wenn jemand hofft, dass Nawalnys Tod in irgendeiner Form ein Fanal sein könnte, dann ist das angesichts von ein paar Tausend russischen Demonstranten vielleicht menschlich, aber auch realitätsfern. So wie es während des Zweiten Weltkriegs keinen Aufstand der Deutschen gegen Hitler gab, wird es auch keinen Aufstand der Russen gegen Putin geben, sodass es einer Niederlage des russischen Imperialismus als solchen bedarf. Es führt insofern kein Weg an einem ukrainischen Sieg vorbei. Deutschland ist da sicherlich nicht allein, wenn es um Schwierigkeiten bei dieser Erkenntnis geht, von der Realisierung einmal ganz zu schweigen, aber bei uns gibt es tatsächlichen in verschiedenen politischen Lagern aus verschiedenen Gründen tief verwurzelte Ansichten und Fehlannahmen zu Russland. Der AfD gefällt das Antiliberale, in der CDU sieht man an manchen Stellen die vermeintlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten, dito in der SPD, die Linke erinnert sich entweder wehmütig an die Sowjetunion oder an die Friedensbewegung und das BSW ist zusätzlich noch einfach gegen Amerika. Unverdächtig sind für mich vor allem die Grünen und witzigerweise die FDP. Genscher gehört in meinen Augen zwar tatsächlich zu den am meisten überschätzten Politikern der deutschen Geschichte (allein, dass er sich selbst von Kohl nicht zurückpfeifen ließ, als dieser ihn aufforderte, gegenüber der Sowjetunion keine Zusicherungen hinsichtlich der Zukunft der Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes zu machen), andererseits hat sich die FDP eh so ziemlich von allen Parteiwurzeln befreit. Ich habe schon den Eindruck, dass sich in Deutschland in den letzten zwei Jahren etwas im Verhältnis zu Russland geändert hat, es kostet nur ziemlich viel Zeit. Und das ist in der Tat etwas, was die Ukraine nicht hat.